Der Postbote
«Um 1900 besorgte mein Vater das Postverteilen noch allein. Später schickte mich dann der Vater in die Häuser mit der Post. Einmal wollte ich auch einen Brief bei Degen-Kamber’s abgeben. Beim Öffnen der Türe musste man zuerst durch einen langen Gang, um in die Küche zu kommen, wo Frau Degen meistens anzutreffen war. Als ich diesmal den ersten Schritt nach dem Öffnen der Türe in den Gang machte, stand ich mit meinen nackten Füssen gerade in einer heissen Zwetschgenwähe. Frau Degen hatte die Bleche mit den Wähen zum Abkühlen in den Gang gelegt. Ich legte den Brief still daneben und verschwand in aller Eile, nachdem ich die Zwetschgen wieder zu recht gestrichen hatte.
Als ich grösser war, schickte mich mein Vater mit den Briefen und Zeitungen auf die abgelegenen Höfe. Vorher hatte meine Schwester Pauline dieses Amt ausgeführt, das bei ihr mit viel Angst verbunden war. Angst nicht wegen dem langen Weg, aber Angst vor den Hunden. Auf den Höfen waren überall Hunde, die wir fürchteten wie nichts sonst. Meine Schwester und ich hatten die gleiche Methode, um die Hunde zu umgehen. War der Hund vor dem Haus, schlichen wir von hinten ans Haus und wenn er hinten war, von vorne. Aber meistens sahen wir den Hund erst im letzten Moment und wir verbrachten schreckliche Augenblicke, bis jemand aus dem Haus kam, um den Hund wegzujagen und die Post entgegen zu nehmen. Damals wurde die Post dreimal täglich verteilt. Am Morgen, am Nachmittg und um 6 Uhr abends bis wir fertig waren. Mein Vater verdiente etwa CHF 100 pro Monat. Als der erste Weltkrieg ausbrach, wird den Pöstlern wegen Sparmassnahmen der Lohn gekürzt. Erst als sich diese zusammen taten, wurden sie via Sozialisten wieder in eine bessere Lohnklasse eingestuft. Als mein Vater als Postbote angestellt wurde, war unser Dorf noch eine geschlossene Siedlung. Einzig beim Brauereiquartier standen einige neue Häuser. Er war der einzige Pöstler im Dorf. Später musste ein zweiter angestellt werden. Das Postbüro war gerade vis à vis von unserem «Lädeli». Vater musste um 8 Uhr beginnen, 8.10 Uhr kam der Postzug von Basel, wo beide Pöstler die Postsäcke auf den gelben zweiräderigen Postwagen luden. An den schulfreien Nachmittagen musste ich mit Vater zum «Vertragen» gehen. Später musste ich das Quartier bei der Ziegelei und die abgelegenen Höfe allein bedienen.»
Jacques Düblin (1901 – 1978)